Steht das System Erdoğan kurz vor dem Zusammenbruch?
Was als harmlose Demonstration gegen den Neubau eines Einkaufszentrums auf dem Gezi-Park in Istanbul begann, entwickelt sich mit immer größerer Geschwindigkeit zu einem Pulverfass, das — nicht zuletzt auch aufgrund der unverhältnismäßigen Reaktionen der türkischen Polizeikräfte — sich zu einem Bürgerkrieg in der Türkei entwickeln könnte. Auch der Premierminister Recep Tayyip Erdoğan zeigt immer deutlichere Symptome von Realitätsverlust.
Aus der Türkei erreichen uns seit Tagen immer neuere Bilder der Brutalität, die die türkische Polizei gegenüber Demonstranten von #occupygezi entlädt. Neutrale Beobachter sind sich inzwischen einig, dass der Polizeiansatz rund um den Taksim-Platz und dem Gezi-Park in Istanbul alles andere als verhältnismäßig ist. Es findet ein Krieg gegen die Bevölkerung statt, die den Gezi-Park erhalten und nicht einem Einkaufszentrum opfern möchten. Obwohl Premierminister Erdoğan zunächst mit einem Rückzug reagierte, griffen die Proteste gegen den Regierungschef auf inzwischen 50 weitere türkische Städte über. Inzwischen geht es auch nicht mehr nur um den Gezi-Park, sondern um den Kopf der amtierenden Regierung. Die Demonstranten fordern inzwischen offenkundig den Rücktritt des Premierministers.
Mit Gummigeschossen gegen das rebellierende Volk. Die türkische Polizei geht nicht gerade zimperlich vor / Bild: occupygezipics.tumblr.com
Deutliche Zeichen von Realitätsverlust erkennbar
Wie bei allen Politikern, die unter Größenwahnsinn leiden, zeigt auch Recep Tayyip Erdoğan deutliche Zeichen von Realitätsverlust. In einer Rede an seine Anhänger diffamierte er die Demonstranten zu Extremisten, denen kein Raum gegeben werde dürfe, an denen sie randalieren können. Deutliche Warnungen richtete er auch gegen seine Gegner, die sich mit ihm anlegen wollten: „Wenn ihr 200.000 Leute versammeln könnt, dann kann ich eine Million versammeln.“ Er kündigte auch an, dass die Polizei weiterhin am Taksim-Platz verbleiben werde. Worte, die aus dem Munde eines vermeintlichen Demokraten eigentlich völlig Fehl am Platze sind. So spricht nur ein Diktator! Auch die Ankündigung, gegenüber 200.000 Demonstranten etwa eine Million eigene Anhänger einzusetzen klingt eher nach einem Bürgerkrieg als nach der Suche nach einer gemeinsamen Lösung.
Betrachtet man aber Erdoğans starken Worte, erkennt man dabei, dass es sich in Wirklichkeit um Schwäche handelt. Er muss bald abtreten, da er nicht mehr für eine weitere Amtsperiode kandidieren kann. Dass er danach Staatspräsident werden will, ähnlich wie es Wladimir Putin tat, zeigt ganz deutlich, mit welcher Sorte Mensch man es bei Erdoğan zu tun hat: Mit einem größenwahnsinnigen und machtbesessenen kranken Menschen, der jede Form von Kritik mit Fäusten und Schlagstöcken niederknüppeln lässt.
Mehr Verständnis für die Demonstranten zeigte dagegen der derzeit amtierende Staatspräsident Abdullah Gül. Er forderte die Polizei dazu auf, sich zurückzuhalten. An die Demonstranten gerichtet meinte er, dass diese sich „reif“ benehmen sollten, um die Situation nicht unnötig eskalieren zu lassen.
Gespaltene Regierungspartei
Innerhalb seiner eigenen Partei, der AKP, steht Premierminister Erdoğan gleich von mehreren Seiten aus unter Druck. Innerhalb der AKP gibt es Anhänger, die Erdoğan nach seiner Wahl in einflussreiche Positionen im Staatsapparat gehoben hat. Diese Leute haben, im Gegensatz zum Premierminister, tatsächlich etwas zu verlieren. Es gibt aber auch einen starken islamischen Flügel in der Partei, der vom Prediger Fettulah Gülen befeuert wird. Diese Anhänger haben sich schon lange von der Regierungslinie von Recep Tayyip Erdoğan entfernt und unterstützen ihn nicht mehr. Auch die Kemalisten und die Kurden könnten für den amtierenden Regierungschef zum Problem werden. Zwar halten die Kurden derzeit noch still, aber es ist fraglich, wie lange der informelle Waffenstillstand mit der PKK aufrecht erhalten werden kann unter dem Gesichtspunkt, dass die Polizeigewalt immer mehr zu eskalieren scheint.
Die Proteste fordern auch Verletzte. Mehr als 1.000 Demonstranten wurden leicht und schwer verletzt / Bild: occupygezipics.tumblr.com
Demokratie steht auf wackeligen Beinen
Dass die Demokratie in der Türkei alles andere als standfest ist, das merken die Menschen besonders jetzt. Politische Intrigen und Korruption beschäftigten die Erdoğan-Eliten in seinen drei Amtsperioden mehr als sich um die Festigung von Demokratie und Wirtschaft im eigenen Land zu kümmern. Anders als bei den künstlich herbeigeführten Revolutionen im Arabischen Frühling, handelt es sich bei den nun aufkeimenden Protesten nicht um Umbrüche, die einen religiösen Ursprung haben, sondern die Menschen auf den Straßen verfolgen zivile Interessen. Sie äußern ein großes Unbehagen gegen das Erdoğan-Regime und verlangen tiefgreifende Veränderungen. So tiefgreifend, dass sie Erdoğan alleine in seiner restlichen Amtszeit wohl nicht mehr umsetzen kann, zumal er das auch gar nicht will.
Doch die innere Zerrissenheit der Türkei könnte zu einem besseren Zeitpunkt gar nicht kommen. Gerade auf dem Höhepunkt seiner Kriegsforderungen gegen Syrien muss sich Erdoğan mit den eigenen Landsleuten beschäftigen. Wenn er tatsächlich Präsident der Türkei werden will, wird er jetzt nicht auf Krieg mit dem Nachbar setzen können, sondern muss nach den vergangenen Tagen erst einmal sein Image aufpollieren.




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