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Aus „Junge Welt“, vom 4. Dezember 2023

Gefängnis wegen Gedicht

Südkorea: 68jähriger aufgrund »nordkoreafreundlicher« Aussagen verurteilt

Von Martin Weiser, Seoul

Es ist eine harte Strafe: 14 Monate Haft ohne Bewährung für den 68jährige Südkoreaner Lee Yun Seop. In erster Instanz wurde er dazu am vergangenen Montag verurteilt. Der Grund: das Verfassen und Verbreiten »nordkoreafreundlicher« Äußerungen im Internet. Die Rechtsgrundlage dafür ist das weltweit kritisierte Nationale Sicherheitsgesetz, das seit 1948 jedwede nordkoreafreundliche Äußerung unter Strafe stellt und auch für die Zensur der nordkoreanischen Medien im Süden missbraucht wird.

Laut der südkoreanischen Nachrichtenagentur Newsis begründete der Richter das »milde« Urteil mit dem Alter und Gesundheitszustands des Angeklagten. Auf der Basis des herangezogenen Artikels 7 können Menschen bis zu sieben Jahre weggesperrt werden. Noch zwei Wochen zuvor hatte das UN-Komitee für Menschenrechte betont, dass eben jener Artikel im Sicherheitsgesetz das Internationale Abkommen für bürgerliche und politische Rechte verletzt. Laut mehreren Medienberichten saß Lee bereits zehn Monate für Ähnliches im Gefängnis.

Nur wenige Details der als problematisch angesehenen Texte sind bisher öffentlich geworden. So soll Lee schon 2013 einen südkoreanischen Artikel zum Militär des nördlichen Nachbarn »nordkoreafreundlich« kommentiert haben. Die nächsten vier Jahre soll er dann 72 »staatsfeindliche« Texte oder Kommentare auf südkoreanischen Seiten hochgeladen oder in seinem E-Mail-Postfach gespeichert haben. Zusätzlich soll er auf der nordkoreanischen Internetseite »Uriminzokkiri« Kommentare, wie etwa »Hoch lebe Kim Jong Un«, der derzeitige Staats- und Parteichef, hinterlassen haben. Diese Seite wird, wie die meisten nordkoreanischen Internetseiten, in Südkorea zensiert und lässt sich nur über eine VPN-Verbindung erreichen.

Der Text, der in den südkoreanischen Medien die meiste Aufmerksamkeit erhielt, war jedoch ein Gedicht. Dieses hatte der Poet im September 2016 auf »Uriminzokkiri« als Leserkommentar veröffentlichte und damit sogar einen Wettbewerb der Internetseite gewonnen. Dass er dieses Gedicht dann auch auf einer südkoreanischen Seite veröffentlicht hat, wird ihm ebenfalls angekreidet. Der Text kann heute noch auf der nordkoreanischen Internetseite eingesehen werden und wurde bisher nur rund 4.500 Mal aufgerufen. In den vier Strophen findet sich aber weder eine Verehrung der nordkoreanischen Führung noch eine anderweitige Bedrohung der südkoreanischen Gesellschaftsordnung. Man könnte dem Text nur vorwerfen, utopische Vorstellung des Nordens auf ein zukünftiges vereinigtes Korea zu projizieren: mietfreies Wohnen, keine Einkommenssteuer, ein Recht auf Arbeit, kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung, sowie keine Prostitution und weniger Selbstmorde. Südkorea hat eine der höchsten Selbstmordraten der Welt, und obwohl Prostitution offiziell illegal ist, ist sie weit verbreitet.

Das Gedicht ruft auch nicht dazu auf, die freiheitliche Grundordnung abzuschaffen oder dass alle US-Streitkräfte abziehen und Militärübungen beendet werden, was in Südkorea gerne als »pronordkoreanisch« verunglimpft wird. Nach einer Aufzählung der Menschenrechte, die nach einer Wiedervereinigung realisiert werden würden, schließt es nur mit dem Aufruf an die Südkoreaner, für die Wiedervereinigung zusammenzuhalten und sich nicht durch »fremde Kräfte und Verräter« entmutigen zu lassen.

Hier ist allerdings der Kontext entscheidend. Im Jahr, als Lee das Gedicht verfasste, regierte noch die südkoreanische Diktatorentochter Park Geun Hye, die erst im März 2017 aus dem Amt gejagt und wegen Machtmissbrauchs und Korruption zu Jahrzehnten Gefängnis verurteilt wurde. Im Februar 2016 hatte sie den Abzug aller Südkoreaner aus der Wirtschaftszone Kaesong angeordnet, was dem einzig verbliebenen innerkoreanischen Wirtschaftsprojekt ein jähes Ende setzte. Im Juli desselben Jahres folgte die Erklärung, dass Südkorea das Raketenabwehrsystem THAAD der USA aufstellen werde, um sich gegen nordkoreanische Raketenangriffe zu schützen. Dies wurde von China und anderen Ländern scharf kritisiert und kann als einer der Gründe gelten, warum Nordkorea seitdem sein Raketenprogramm intensiv vorangetrieben hat.


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