Der Untergang: Zerstörung in Aleppo – ZUERST!

Der Untergang

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 der untergang

Die syrische Stadt Aleppo gilt als Wiege der Zivilisation:

Auch Deutschland hat viel für den Erhalt jener Kulturschätze

getan, die jetzt von bewaffneten Banden

eingeäschert werden

Der kurze Film dauert etwa zweieinhalb

Minuten. Er stammt aus der

syrischen Stadt Aleppo. Man muß sich

zwingen, dem Schauspiel bis zum Ende

zuzusehen. Ein älterer Mann mit

schwarzer Wollmütze und Bart sitzt auf

einem beige gepolsterten Stuhl und

fürchtet um sein Leben. Er war kurz zuvor

entführt worden, jetzt sitzt er da und

wird vor laufender Kamera als „Beute“

zur Schau gestellt. Sein Name ist Krikor,

er gehört zur armenischen Minderheit

in Syrien, in Aleppo lebten vor der Krise

etwa 45.000 Armenier. Vor der Kamera

sagt der verstörte Mann, sein Name sei

nun „Abdul Wahed“. Er sei gerade –

„ohne Zwang, ganz freiwillig“ – zum

Islam konvertiert, antwortet er auf die

Frage des Interviewers, der nicht zu

sehen ist. Das kurze Video ist von der

„Freien Syrischen Armee“ (FSA) – der

Freischärlertruppe, die seit eineinhalb

Jahren mit internationaler Unterstützung

gegen die syrische Regierung einen

blutigen Krieg führt – ins Netz gestellt

worden. Der alte Armenier dient

als Trophäe. Bewaffnete Kämpfer der

FSA haben ihn gekidnappt und vor einen

eigens eingerichteten, sogenannten

„islamischen Rat“ gesetzt. Unter Todesangst

konvertierte der armenisch-syrische

Christ zum Islam. Der FSA-Angehörige

zwingt Krikor, vor der Kamera

an seine „armenischen Brüder“ zu appellieren,

die FSA zu unterstützen. „Ich

schwöre es beim allmächtigen Gott“,

sagt Krikor und gestikuliert dabei mit

den Händen. „Wer auch immer behauptet,

die FSA töte und verfolge Christen,

liegt falsch. Das sind Lügner!“ Und

Krikor redet weiter wie ein Wasserfall:

„Vom ersten Tag an, als Ihr mich mitgenommen

habt, bekam ich Hühnchen

und Kartoffeln zu essen. Meine eigenen

Söhne wissen gar nicht mehr, wie das

schmeckt!“

Während Krikor weiter verzweifelt

das gute Essen der FSA lobt, wird der

Befrager langsam ungemütlich. „Sag

Deinen armenischen Brüdern: Verbündet

Euch nicht mit dem Regime, denn

es will Euch töten! Los! Sag es!“ Am

Ende muß sich Krikor bei seinen Peinigern

bedanken, sagt aber noch: „Ich

verlasse mich auf Euch!“ Was haben

ihm die Entführer für das Schauspiel

versprochen? Vielleicht, daß sie seine

Familie verschonen? Werden die Kidnapper

ihr Versprechen halten?

Aleppo galt bis zum letzten Sommer

als ein Juwel des Nahen Ostens. Jetzt ist

die Millionenstadt nur noch ein Schatten

ihrer selbst. Weite Teile der syrischen

Metropole gleichen einem Trümmerfeld.

Wer die Bilder aus Berlin,

Hamburg und Dresden nach dem Zweiten

Weltkrieg kennt, fühlt sich beim Anblick

Aleppos unweigerlich an das

Schicksal der deutschen Städte durch

den alliierten Bombenterror erinnert.

Der Fluß Queiq, an dem früher Touristen

und verliebte Paare fl anierten,

spült heute Leichen ans Ufer.

In der nordsyrischen Metropole, die

das Wirtschafts- und Handelszentrum

Syriens war, wird seit Sommer vergangenen

Jahres gekämpft. Milizen der FSA

sowie verbündete islamistische Banden

der sogenannten „Al-Nusra-Front“ haben

es geschafft, den Krieg in die Stadt

hineinzutragen. Es begann mit Terroranschlägen

und Bombenexplosionen,

später drangen bewaffnete Banden bis

in die Innenstadtbezirke vor und überzogen

die Millionenstadt mit Gewalt

und Terror. Die radikal-sunnitische Al-

Nusra-Front richtete im historischen

Suq (Markt) der Stadt geheime Folterstätten

ein. Vor allem die Christen in

Aleppo – etwa die Hälfte der ursprünglich

2,5 Millionen Einwohner der

Stadt – bekommen den Zorn der selbst-

ernannten „bewaffneten Opposition“

zu spüren.

Vor dem Sturm auf Aleppo scheiterte

im Juli 2012 der großspurig angekündigte

Kampf um die syrische Hauptstadt

Damaskus – die FSA sprach wortgewaltig

vom Unternehmen „Damaskus

Vulkan“. Doch der syrischen Armee gelang

es, die Freischärler aus der Innenstadt

herauszuhalten. Am Ende sprach

die FSA-Führung von einem „taktischen

Rückzug“. Man sei nicht besiegt

worden, sondern werde sich lediglich

„umorientieren“.

Und Aleppo lag geographisch günstiger

für die bewaffneten Banden der

FSA. Denn im Gegensatz zu Damaskus

liegt die nordsyrische Wirtschaftsmetropole,

die als besonders „regimetreu“

gilt, nahe an der syrisch-türkischen

Grenze – dem FSA-Nachschubweg

für Waffen, Munition, Ausrüstung

und frische Truppen. Es ist, als würde

man wieder einen Scheit Holz ins lodernde

Feuer werfen. Immer wenn die

syrische Armee ein Viertel freigekämpft

hat, explodiert woanders eine Bombe,

und das blutige Spiel beginnt von vorne.

Von einigen Gegenden stehen nur

noch die Grundmauern, und die Straßen

sind mit Geröll verstopft.

Aleppo ist eine der ältesten kontinuierlich

besiedelten Städte der Welt. Etwa

5.000 Jahre Geschichte, wichtige und

einzigartige historische Bauwerke, seine

Große Moschee und sein über sieben

Kilometer langer überdachter Basar

machten die Stadt zu einem von der

UNESCO gewürdigten Weltkulturdenkmal.

Machten. Denn der Basar ist

bereits Geschichte. Er wurde in Schutt

und Asche gelegt. Die Große Moschee

ist schwer beschädigt.

Vor allem Deutschland hatte sich in

der Vergangenheit um den Erhalt und

die Pfl ege der Kulturdenkmäler Aleppos

verdient gemacht. Die Deutsche Gesellschaft

für Internationale Zusammenarbeit

(GIZ) gehörte zu den Hauptorganisatoren

unterschiedlichster Rettungsmaßnahmen

für die Bauten der

Altstadt von Aleppo. Zwischen Oktober

1994 und März 2007 schob die GIZ mit

einem umfassenden Sanierungs- und

Entwicklungsplan das Rettungsprojekt

für die Altstadt mit an. Nicht nur äußerlich

wurde die Altstadt wieder schöner,

auch die Lebensqualität ist durch

die deutsche Hilfe stark angestiegen:

Die Bewohner von Aleppo erhielten

Kleinkredite und kostenlose technische

Beratung, um ihre Wohnhäuser instandzuhalten

oder zu sanieren. Durch

die Erneuerung des Wasser- und Abwassernetzes

wurde die Versorgung mit

sauberem Trinkwasser verbessert. Darüberhinaus

wurde verhindert, daß

Wasser aus undichten Leitungen den

Boden unter den Häusern aufweicht

und so die Fundamente gefährdet. Sogar

die Luftqualität wurde verbessert,

indem eine moderne Verkehrsregelung

den Zugang zu allen Altstadtteilen sicherte

und gleichzeitig den Durchgangsverkehr

reduzierte. Doch das ist

alles Geschichte. Die engen und ver

winkelten Gassen der Altstadt von

Aleppo wurden von den FSA-Kämpfern

schnell als ideales Kampfgebiet erkannt.

Wo Mauern im Weg standen,

wurden einfach Löcher hineingesprengt.

Wenn Regierungsunterstützer in einem

Haus vermutet wurden, brannte man es

nieder. Die deutsche Wertarbeit der Altstadt

von Aleppo versank binnen Wochen

im Müll und den Exkrementen

der FSA-Kämpfer. Aus den Häusern

plünderten

sie, was sie tragen konnten

und nicht bereits Raub der Flammen

geworden war. Im Herbst verkündete

ein FSA-Sprecher stolz, er und seine

Kämpfer kontrollierten 90 Prozent der

Altstadt.

Soldaten der syrischen Armee leisteten

in der mittelalterlichen Zitadelle im

Zentrum der Stadt – eines der eindrucksvollsten

Gebäude des Nahen

Ostens – Widerstand. Sie ist eine der

ältesten und größten Festungsanlagen

der Welt. Der größte Teil der heu tigen

Gebäude und Wehranlagen stammt aus

dem 13. Jahrhundert. Niemand hätte gedacht,

daß die Zitadelle, die auf einem

künstlich errichteten 50 Meter hohen

Hügel thront, noch einmal als Verteidigungsanlage

genutzt werden würde.

Bereits im September hatte die syrische

Armee nach heftigen Kämpfen die

drei wichtigsten Wohngebiete der Christen

in Aleppo – Dschdeide, Talal und

Sulaimaniya – zurückerobert. Die Einwohner

hatten die Rückkehr der Armee

auf den Straßen gefeiert. Zuvor war der

Erzbischof der griechisch-katholischen

Kirche, Jean-Clement Jeanbart, aus

Aleppo in den Libanon gefl ohen, nachdem

seine Kirche am Farhat-Platz von

Terroristen angegriffen worden war.

Ihm folgten bereits viele Christen, aber

auch Sunniten, Schiiten und Alawiten.

Auch sie werden nicht verschont, sondern

entführt und ermordet, falls sie

sich nicht eindeutig zur FSA bekennen.

„Aleppo stirbt“, sagt Kevork Elmassian

lakonisch. Der syrische Journalist

armenischer Abstammung ist in Aleppo

geboren. Heute berichtet er für einen

irakischen Nachrichtenkanal über sein

kriegsgebeuteltes Heimatland Syrien.

Der Endzwanziger studierte in Aleppo,

Damaskus und Paris Politikwissenschaften,

spricht neben Arabisch und

Armenisch auch Englisch und Französisch

fl ießend. Elmassian ist kein Eiferer

und kein Hetzer, sondern ein kühler

Analyst. Unterstützer der FSA sehen

in Elmassian längst einen Feind, obwohl

er selber nie zu den Parteigängern des

syrischen Präsidenten gehörte, wohl

aber den Terror und die Gewalt der FSA

strikt ablehnt. „Früher konnte man Probleme

bekommen, wenn man die syrische

Regierung kritisierte“, sagt er im

Gespräch mit ZUERST!. „Aber heute

kann man ermordet werden, wenn man

nicht auf der Seite der FSA steht.“ Die

Bewohner Aleppos litten unter dem

Terror der bewaffneten Banden, beschreibt

Elmassian die Situation. Der

Strom falle immer wieder aus, die Preise

stiegen steil an wegen der unsicheren

Versorgungslage.

Als Mitte Mai 2012 zwei Bomben in

der Universität von Aleppo explodierten,

waren auch Bekannte Elmassians

unter den 90 Opfern. Bei den Toten

handelte es sich hauptsächlich um Studenten,

Dozenten und Vertriebene aus

anderen Vierteln Aleppos, die im Studentenwohnheim

Zufl ucht gefunden

hatten. Schnell bezichtigte der Westen

die syrische Regierung, für das grausame

Blutbad verantwortlich zu sein.

Dabei gehört die Universität zu jenen

Gegenden Aleppos, die als besonders

regierungsnah gelten. Elmassian ist sich

sicher, daß die Terroristen, die für den

Bombenanschlag verantwortlich sind,

aus den Reihen der sogenannten „be

waffneten Opposition“ stammen. Bereits

Tage zuvor seien Flugblätter an der

Universität aufgetaucht, in denen militante

Islamisten die Studenten zum

Streik aufriefen. Doch niemand wollte

dem Aufruf folgen, die Studenten, Professoren

und Dozenten wollten sich

nicht einschüchtern lassen. „Die Terroristen

bestraften also die Studenten

für ihren Ungehorsam. Das entspricht

der Logik der Gewalt“, sagt Elmassian.

Nur einen Tag vor dem Bombenanschlag

auf die Universität von Aleppo

starben bei einem Schulmassaker in den

USA 26 Menschen. Die deutsche Bundesregierung

zeigte sich betroffen und

schickte US-Präsident Barack Obama

ein

Kondolenzschreiben. Die 90 Toten

des Universitätsmassakers von Aleppo

waren der Bundesregierung keine Silbe

wert. Es würde auch nicht zur Linie Berlins

passen. Denn offi ziell gelten die Milizen

der FSA nach wie vor als „Freiheitskämpfer“

und genießen die wohlwollende

Unterstützung auch der deutschen

Bundesregierung. Selbst dann, wenn sie

all das in Schutt und Asche legen, was

deutsche Ingenieure und Archäologen in

jahrelanger Arbeit mitaufgebaut haben,

und Zivilisten foltern und ermorden.

„Aleppo wird nie wieder so sein, wie es

vor der Krise war“, sagt Elmassian.

MANUEL OCHSENREITER

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Türkischer Raubzug

Aleppo: Syrische Industrielle bezichtigen die Türkei des Technologieklaus

Fares al-Shebani, geboren 1972 in

Syrien, ist der Vorsitzende der Syrischen

Industrie- und Handelskammer und

kommt aus Aleppo. Derzeit plant er eine

Klage gegen die Türkei wegen der

Verschleppung syrischer Industrieanlagen

über die syrisch-türkische

Grenze. Al-Shebani ist verheiratet und

hat zwei Kinder.

Herr al-Shebani, Sie sind der Vorsitzende

der Syrischen Industrie- und

Handelskammer und planen den türkischen

Ministerpräsidenten Recep

Tayyip Erdogan vor einem Gericht anzuklagen.

Ihr Vorwurf: Die Türkei

habe während der Kämpfe um Aleppo

syrische Industrieanlagen demontiert

und illegal über die Grenze auf türkisches

Gebiet verbracht. Wie hoch

schätzen Sie den Wert der verschleppten

Anlagen?

 

Al-Shebani: Wir schätzen den Wert unserer

Verluste auf über 200 Milliarden

Syrische Pfund. Und dieser Betrag steigt

immer weiter, da der Raubzug immer

noch anhält.

Über was für Industrieanlagen sprechen

wir in diesem Zusammenhang?

Al-Shebani: Es handelt sich speziell um

Anlagen aus dem Textil- und Nahrungsmittelbereich,

aber auch um chemische

Anlagen. Dazu kommen noch

staatseigene Produktionsstätten wie

beispielsweise eine Kabel-Fabrik und

Baumwollwebereien. Außerdem wurden

viele Ölbohrer und andere Anlagen

für die Erdölförderung gestohlen und

in die Türkei gebracht.

Wie muß man sich diesen Raubzug

praktisch vorstellen?

Al-Shebani: Die Banden aus Terroristen

und Dieben, die von der Türkei

unterstützt werden und manchmal sogar

von türkischen Technikern begleitet

werden, haben zunächst die Industriegebiete

Aleppos unter ihre Kontrolle

gebracht. Sie haben die schweren

Maschinen und Produktionsanlagen

zerlegt und auf Lastwagen verladen. So

wurden die Anlagen über die türkische

Grenze gebracht – natürlich ohne die

eigentlich für einen solchen Transfer

erforderlichen Dokumente und ohne

die Einwilligung der syrischen Eigentümer.

Daß die Türkei den Import des

Raubgutes erlaubt, ist ein klarer Verstoß

gegen internationale Gesetze und gegen

das Handelsrecht. Die gestohlenen

Anlagen tauchen dann wieder in den

türkischen Grenzstädten auf, nachdem

man dort die Dokumente einfach gefälscht

hat.

Gab es internationale Proteste gegen

Ankara wegen dieser Rechtsbrüche?

Al-Shebani: Unglücklicherweise bislang

nicht. Ich muß sagen: Wir sind schokkiert

über die Gleichgültigkeit des Westens

gegenüber diesem brutalen Angriff

auf ganz grundlegende wirtschaftliche

Gesetze und unsere Würde. Ankara

müßte eigentlich klargemacht werden,

daß es seine Feindseligkeiten gegen

uns einstellen muß – und die Türkei

müßte für ihre Rechtsbrüche bestraft

werden.

Wie lange wird es dauern, bis sich die

Wirtschaft in Aleppo von diesem Schlag

wieder erholt haben wird?

Al-Shebani: Es wird auf jeden Fall sehr

lange dauern.

Waren Sie selber überrascht vom Raub

Ihrer Industrieanlagen?

Al-Shebani: Nein. Der Westen ist verantwortlich

für diesen ungeheuerlichen

Vorgang. Von dort aus werden

die Terroristen und ihre Helfer unterstützt.

Wir haben von Anfang an gewarnt,

als sie damit begannen, Flugblätter

zu verteilen, mit denen sie erreichen

wollten, daß unsere Produktionsstätten

bestreikt oder gar geschlossen

werden sollen. Aber niemand

hat uns zugehört. Diese sogenannten

„Freiheitskämpfer“ dieses falschen

Frühlings greifen unsere Wirtschaft

seit den frühen Tagen der Krise an, und

der Westen schaut weg.

Herr al-Shebani, vielen Dank für das

Gespräch.

+++

„Totale

Zerstörung“

 totale zerstörung

Syrienkrieg: ZUERST! im Gespräch mit dem Kriegsreporter

Sarkis Kassargian über die Kämpfe in Aleppo

Sarkis Kassargian, geboren 1980 in

Aleppo, arbeitet als Kriegsreporter für

den syrischen Nachrichtensender

„Al-Khabar TV“. Er ist einer der

wenigen Journalisten, die direkt vom

syrischen Kriegsschauplatz berichten.

Die schweren Kämpfe in Aleppo und

in anderen syrischen Städten hat er

mit seinem Kamerateam begleitet.

Kassargian gehört selbst der armenischen

Minderheit in Syrien an, die

unter den Angriffen islamistischer

Milizen schwer zu leiden hat. Sarkis

Kassargian spricht Arabisch, Armenisch,

Englisch und Türkisch.

Herr Kassargian, seit Monaten ist Ihre

Heimatstadt Aleppo Schlachtfeld des syrischen

Krieges. Wie sehr hat sich die

Millionenstadt dadurch verändert?

Kassargian: Das Gesicht Aleppos hat

sich dramatisch verändert. Vor der Krise

galt Aleppo als die Stadt, die niemals

schläft. Sie war für ihr Nachtleben berühmt,

in der alten syrischen Stadt lebten

Araber, Armenier, Turkmenen, Kurden

und Assyrer friedlich über lange

Zeit zusammen. Heute gleicht das einst

pulsierende Aleppo in vielen Gegenden

einer Geisterstadt. Die dort verbliebenen

Einwohner sind damit beschäftigt,

ihr tägliches Überleben zu organisieren.

Die Stadt, die als Wirtschaftszentrum

für ganz Syrien und auch die Region

galt, ist heute selber bedürftig. In den

historischen Stätten, die einst Millionen

von Touristen begeisterten, verschanzen

sich heute bewaffnete islamistische

Dschihadisten und Salafi sten, die unser

Land in ein islamisches Kalifat verwandeln

wollen.

Wie groß ist die Zerstörung in Aleppo?

Kassargian: Es ist schwer, einen Gesamtüberblick

zu bekommen. Der

Grad der Zerstörung ist von Stadtteil zu

Stadtteil sehr unterschiedlich. Einige

Viertel sind völlig zerstört und unbewohnbar,

andere Gegenden sehen noch

relativ gut aus. Es ist kaum möglich,

sich einen Überblick über die ganze

Stadt zu verschaffen, da es verschiedene

„No-Go-Areas“ gibt.

Wer sind die bewaffneten Milizen, die

Aleppo angreifen?

Kassargian: Es kämpfen viele verschiedene

Gruppen, die Bandbreite umfaßt

politisch moderate Milizen, Extremisten,

Dschihadisten und auch ausländische

Kämpfer. Anfangs kamen

vor allem Milizionäre aus dem ärmlichen

Landstrich nördlich von Aleppo

als Kämpfer in die Stadt. Die meisten

von ihnen hatten einen islamistischen

Hintergrund, außerdem hegte die Landbevölkerung

immer schon einen Groll

gegen die „reichen Städter“. Aber seit

August 2012 strömten immer mehr

bewaffnete Banden in die Stadt, darunter

auch die sunnitischen Extremisten.

Diese Gruppen haben viele

ausländische Kämpfer in ihren Reihen

und bekommen zudem Unterstützung

aus dem Ausland. Sie sind daher besser

organisiert und bewaffnet als die anderen

Gruppen. Sie beherrschen nun das

Kampfgeschehen innerhalb der sogenannten

„bewaffneten Opposition“.

Ihnen geht es dabei nicht etwa um Reformen

und Demokratie sondern um

die Verbreitung ihrer islamistischen

Ideologie.

Sind die unterschiedlichen bewaffneten

Gruppen unter einem gemeinsamen

Kommando?

Kassargian: Das wird zwar immer wieder

behauptet, aber es ist nur ein Mythos.

Die jetzt stärkste und dominante

Gruppe ist die „Nusra-Front“, die der

Terrororganisation Al-Kaida nahesteht.

Wie sieht der Alltag der Zivilisten in

Aleppo heute aus?

Kassargian: Das Leben ist sehr hart und

entbehrungsreich geworden. Nahrung

ist zwar verfügbar, aber die Preise sind

allgemein wegen der unsicheren Versorgungslage

enorm angestiegen. Auch

die Stromversorgung ist stark eingeschränkt.

Derzeit können nur 40 Prozent

des Strombedarfs gedeckt werden.

Die Elektrizitätsversorgung ist daher

streng reglementiert. Praktisch bedeutet

das: nur vier bis sechs Stunden

Strom am Tag. Einige Stadtviertel sind

aber völlig ohne Stromversorgung, da

die Verteilerstationen dort zerstört wurden.

Wegen der Kämpfe war es Reparaturmannschaften

bislang nicht möglich,

die Stromversorgung dort wiederherzustellen.

Auch die Wasserversorgung

ist problematisch. Einige Gegenden

sind mehr als 48 Stunden ohne

Wasser. Die Verwaltung arbeitet, obwohl

es große Schwierigkeiten gibt. Viele

Büros mußten wegen der Kämpfe in

andere Stadtteile umziehen.

Deutsche Syrien-Touristen schwärmen

stets von der historischen Altstadt von

Aleppo…

Kassargian: Ein großer Teil der Altstadt

ist schwer beschädigt, der Rest ist

völlig zerstört. Der historische Markt

brannte vor einigen Monaten während

der Gefechte nieder. Das Haupttor zur

Zitadelle von Aleppo ist ebenfalls beschädigt.

Die Umayyaden-Moschee –

die zweitgrößte und älteste Moschee

Syriens – wurde wie viele andere religiöse

Stätten ausgeplündert, gebrandschatzt

und geschändet. Die Zerstörung

sucht auch jahrtausendealte Bauwerke

heim, die niemals „ersetzt“ werden

können.

Leben noch viele Menschen in der Stadt?

Kassargian: Viele der wohlhabenden

Einwohner haben Aleppo verlassen.

Das hat mit dem Anstieg von Entführungen

durch die Rebellen zu tun, mit

denen sie Lösegeld erpressen wollen.

Aleppo galt als kulturelles Zentrum des

orientalischen Christentums. Wie ist die

Situation der Christen heute?

Kassargian: Wie überall in Syrien haben

viele Christen ihre Heimat verlassen,

andere versuchen durchzuhalten. In

Aleppo hält die Mehrheit der Christen

noch aus. Ein Grund dafür ist, daß ein

Großteil ihrer Wohngegenden unter

dem Schutz der syrischen Armee steht.

Anders übrigens als in Homs, wo Christen

von den Rebellen verfolgt und bedroht

wurden. Die Christen, die Aleppo

verlassen haben, taten das aus Angst vor

Entführungen.

Wie muß man sich das vorstellen?

Kassargian: Einen solchen Fall im vergangenen

November habe ich persönlich

erlebt und darüber berichtet: 14

christliche Männer wurden aus einem

Bus geholt und entführt. Es gab danach

weder Lösegeldverhandlungen noch

sonst irgendwelche Forderungen für

ihre Freilassung. Allein das zeigt, daß

dies kein gewöhnlicher krimineller Akt

war, sondern daß es den Entführern um

religiöse „Säuberungen“ geht. Nachdem

der Flughafen von Aleppo geschlossen

wurde, leben nun viele Christen in großer

Angst. Sie trauen sich nicht mehr,

ihre Häuser zu verlassen oder die Straßen

zu nutzen.

Wie ist die Situation an der Universität

von Aleppo?

Kassargian: Seit die Krise im vergangenen

Sommer Aleppo erreichte, kommen

immer weniger Professoren, Dozenten

und Studenten an die Universität.

Das hat vor allem mit den Schwierigkeiten

zu tun, die Universität sicher

zu erreichen. Seit dem Bombenanschlag

auf das Universitätsgebäude haben viele

Studenten das Vertrauen in die Sicherheit

verloren. Trotzdem geht der Lehrbetrieb

weiter, und man bemüht sich

um Normalität, soweit es die Situation

zuläßt.

Die syrisch-türkische Grenze ist nicht

weit von Aleppo. Welche Rolle spielt Ankara

insgesamt in diesem Krieg?

Kassargian: Die Türkei mischt im

Kriegsgeschehen ordentlich mit. Es ist

längst bekannt, daß auf der türkischen

Seite der Grenze sich Ausbildungslager

für Milizionäre befi nden. Zudem hat

die Türkei die Grenzübergänge für Tausende

von Kämpfern geöffnet, damit

diese nach Syrien einsickern könne.

Diese Freischärler strömen aus allen

Winkeln der Welt über die Türkei nach

Syrien hinein. Verwundete Kämpfer

werden wiederum zur medizinischen

Behandlung über die Grenze in die

Türkei gebracht, wo eine ganze Reihe

von Feldlazaretten speziell für diesen

Zweck errichtet wurden. Zudem werden

Waffen und Ausrüstung über die

Grenze nach Syrien geschmuggelt. Es

gibt Zeugenberichte aus der syrischen

Stadt Ras al-Ain, wonach sogar ein türkischer

Panzer Freischärler bei ihrem

Angriff auf die Stadt begleitet hat. In

Aleppo wurden gefallene Kämpfer gefunden,

bei denen es sich um Kriminelle

handelte, die aus einem türkischen

Gefängnis ausgebrochen waren. Türkische

Medien haben sogar darüber berichtet,

daß Kriminelle speziell für den

Kampf in Syrien aus dem Gefängnis

entlassen werden.

Aleppo ist bekannt für die große Zahl an

Armeniern, die dort lebt…

Kassargian: Das ist ein wichtiges Thema.

Die armenische Gemeinde wurde

von Überlebenden des türkischen Völkermordes

von 1915 ins Leben gerufen.

Heute fühlen sich die Armenier in Syrien

voll und ganz als Syrer und stehen zu

ihrem Land. Speziell für sie ist der Krieg

besonders bitter: Erstens bedrohen die

bewaffneten islamistischen Freischärler

auch sie, da die Armenier Christen sind.

Und zweitens spielt auch der histo rische

Kontext eine Rolle. Armenier, Assyrer

und andere Christen wurden bereits

einmal von den Türken verfolgt. Die

Tatsache, daß die Türkei nun die bewaffneten

islamistischen Banden in Syrien

unterstützt, verheißt in den Augen

der Armenier nichts Gutes.

Herr Kassargian, vielen Dank für das

Gespräch.


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